"Die Zeit gehört uns - Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung"
Vortragsabend mit Prof. Friedhelm Hengsbach, SJ // Sonntag, 17. November, Katholische Hochschulgemeinde, Würzburg
Am Sonntagabend, 17. November, haben sich rund 150 Interessierte in der Katholischen Hochschulgemeinde Würzburg (KHG) eingefunden, um dem Vortrag „Die Zeit gehört uns“ zu lauschen. Redner des Abends war der Sozialethiker und emeritierte Prof. für Christliche Sozialwissenschaft bzw. Wirtschafts- und Gesellschaftsethik, Friedhelm Hengsbach. Der Jesuit und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von „Attac“ referierte über Stress, Zeitdruck und Möglichkeiten, dem Wahn nach höher-schneller-weiter entgegen zu wirken. Den Abschluss der Veranstaltung bildete eine Diskussion über die Rolle der Akteure – wie Politik, Wirtschaft und Kirche – die Verantwortung von Gewerkschaften und die Doppelbelastung im Beruf- und Privatleben.
„Ich sollte mal wieder…“, mit diesem Satz eröffnet Michael Ottl, KHG-Referent und Leiter der Akademikerseelsorge, den Vortragsabend am 17. November und weist diesen Satz als typischen Ausdruck unserer Zeitnot aus. Er wirft die Frage auf, was das Hamsterrad antreibt, in dem wir uns augenscheinlich befinden. Friedhelm Hengsbach beginnt sein Referat mit einer Titelgeschichte des UniSPIEGELs im Juli 2011: „Ich kann nicht mehr“ zierte das Titelblatt mit dem Zusatz „Leistungsdruck an der Uni: Studenten im Psycho-Stress“.
Stress, Zeitdruck und das Vernachlässigen von eigener, privater Zeit seien keine Phänomene, die nur bei Managern, und Eltern auftreten. Insbesondere junge Menschen klagen gehäuft über Druck. So erzählt im UniSPIEGEL eine Schülerin sie sei stresskrank. Hengsbach beobachtet, wie auch andere SoziologInnen, dass aktuell 1/3 aller ArbeitnehmerInnen gestresst seien. 1/5 stehe laut eigenen Aussagen unter Dauerstress. „Das Ausbrennen ist vielleicht die Epidemie des 21. Jahrhunderts“, erklärt der Redner. Der Tagesrhythmus vieler Eltern sei auf ungesunde Art auf die Bedürfnisse der Kinder abgerichtet. „Die Kleinen um 7 Uhr aus dem Bett zerren, Frühstück im Stehen. Schnell in die Schule fahren, dann ein paar Stunden Teilzeitarbeit und die Kinder wieder von der Schule abholen. Die Tochter muss zum Fußball, der Sohn zum Saxophon-Unterricht. Danach ein schnelles Abendessen, ein kurzes Gespräch mit dem Partner/der Partnerin und am nächsten Morgen geht der Trott von vorne los.“, erklärt Hengsbach. Die Zeit für sich Selbst fehlt und insbesondere bei Frauen spüre man noch heute eine starke Doppelbelastung. So sind es vor allem sie, die Arbeit und Haushalt/Kinder unter einen Hut bekommen müssen. Frauen verrichten über die Hälfte mehr unbezahlte Arbeit im Privaten als Männer. Männer dagegen über die Hälfte mehr in der bezahlten Arbeitswelt. Dieses Ungleichgewicht muss ausgeglichen werden, fordert Hengsbach und schildert humorvoll mit Blick aufs Detail den Alltag unserer Beschleunigungsgesellschaft. Ernster wird er bei den Gründen der Dauerbeschleunigung: Den apokalyptischen Endzeitzustand, auf den die Schnelllebigkeit und der Stress unausweichlich zusteuern, erklärt er mit folgender These: Seit sich Finanzmärkte insbesondere durch die digitale Technik eine Hegemonie über die Wirtschaft erarbeitet haben, steigt der Druck auf Politik, Gesellschaft und der Ruf nach Beschleunigung wird laut.
All dies spiegelt sich im Privaten wieder. Überstunden nehmen zu, die Wochenendarbeit steigt und selbst im Urlaub werden via Smartphone und Co. Firmen-Mails beantwortet, Termine vereinbart und digital zugearbeitet. Durch das Schneller-Werden aller Bereiche liese sich auch die Wertigkeit von Unternehmen kaum noch nachvollziehen. Gewinnerwartungen und Erwartungen bezogen auf diese Gewinnerwartungen machen das „Standing“ eines Unternehmens an der Börse aus. Der Realanteil sei dabei auf 2% geschrumpft – soll heißen: Man misst nicht am Markterfolg, sondern anhand von Zukunftsversprechen. Diese Problematik führt dazu, dass nicht Fakten zählen, sondern mit Gerüchten Einfluss auf Börsenkurse genommen werden kann. Diese komplexen Zusammenhänge zu verstehen und nachzuvollziehen überfordert nicht nur die meisten Gemüter, sondern oft auch die Politik. PolitikerInnen lassen sich, so Hengsbach, von den Banken und großen Unternehmen diktieren, wie Entscheidungen auszusehen haben. Das führte zur Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt und zu arbeitgeberfreundlichen Politik, die ArbeitnehmerInnen und deren Bedürfnisse nicht berücksichtige. Statt der in den 80er Jahren geforderten „35-h-Woche“ haben wir im Schnitt eine 42-h-Woche, Tendenz: steigend. „Samstag gehört Vati mir“ war einst ein Appell. Heute gelten „individuelle und flexible Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeitszeit“, erklärt der Redner und ergänzt: „Das führt zu einer rapiden Steigerung. Man arbeitet länger und nimmt Termine an, von denen man von Anfang an weiß, man kann sie nicht einhalten. Das wiederum führt zu Überstunden, dann zu Wochenendarbeit und schließlich zu übermäßigem andauerndem Stress.“
Das paradoxe: Wir messen Zeit in Geld. Mehr arbeiten heißt mehr verdienen und mehr verdienen erlaubt mehr Konsum. „Konsum scheint das, wonach wir alle streben – sollen“, erklärt Hengsbach, „auch wenn wir wissen, dass mehr Arbeit gleichsam weniger Freizeit heißt.“ Er stellt seine These vor, mit der dieser Wahn gestoppt werden soll: Die Rebellion gegen die Beschleunigung. Zum einen gäbe es die Möglichkeit, sich persönlich zu verweigern. Entschleunigt leben, durch ein gutes „Zeitmanagement“ auch die Freizeit planen und feste Strukturen schaffen, sowie sich regelmäßig im „Off“ aufhalten – Handy aus, keine Mails beantworten. Die zweite Idee: Institutionen frei räumen. Durch eine stärkere Regulierung seitens der Politik, könnten arbeitnehmerfreundliche Arbeitszeiten in den Fokus rücken. Mehr Freizeit hieße mehr Glück, Zeit für die schönen Dinge. Stärken der Gewerkschaften, feste Tarifpolitik und „auch mal auf die Finger klopfen, wenn Banken oder Großunternehmer meinen, es ging nur um ihre Interessen: die Kapitalvermehrung“, sagt Hengsbach. Als letzten Punkt führt er die zivile Rebellion an. „Spielt Nachhaltigkeit wieder eine größere Rolle, dann ist man auf einem guten Weg.“, erklärt der Sozialethiker. Geschlechtergerechtigkeit und eine Halbtagsgesellschaft seien hierbei die großen Ziele. Durch eine 30-h-Woche gelänge es mehr Menschen in den Arbeitsmarkt einzubeziehen und damit das ganze System zu entlasten. Und den zuvor erörterten Punkt des Ungleichgewichts in häuslicher/gewerblicher Arbeit zwischen Mann und Frau hebt er besonders hervor. Sein großes Anliegen: Weniger den Glücksversprechen des Konsum trauen, stattdessen viel mehr Zeit mit den Liebsten verbringen und sich Zeit nur für sich nehmen. Und beginnen, das eigene Wohl über das des Marktes stellen. Er rät in der Diskussion auf die Bremse zu treten. Das entschleunigt – auch im Straßenverkehr.
Max Schmitt
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